TEST // Holding On - Das Leben des Billy Kerr

TEST // Holding On - Das Leben des Billy Kerr

Verfasst von Michael Tomiak am . Veröffentlicht in Brettspieltest

Als Billy Kerr auf der Palliativstation ankommt, ist nur wenig über ihn bekannt. Auf einem Flug von Sydney nach London erlitt der 60-jährige einen Herzanfall und nun liegt es an dir und deinem Pflegeteam, ihm die restlichen Tage auf diesem Planeten so angenehm wie möglich zu gestalten. Du merkst schon bald, dass hinter dem mysteriösen Mann eine interessante Geschichte zu stecken scheint, von der du möglichst viel erfahren möchtest.

Asmodee hat uns freundlicherweise ein Exemplar von “Holding On – Das Leben des Billy Kerr” kostenlos zur Verfügung gestellt, damit wir uns für euch auf die Suche nach den Geheimnissen im Leben des im Sterben liegenden Billy Kerr machen können.

Pflege für Seele und Körper ist hier gefragt

Ziel von „Holding On – Das Leben des Billy Kerr“ ist es, die Lebensgeschichte von Billy Kerr zu erfahren, indem ihr Erinnerungsbruchstücke zu Geschichten zusammenlegt und aus vagen Erinnerungen klare Erinnerungen macht. Wenn euch dies gelingt, heißt es am Ende, ihm noch drei entscheidende Momente seines Lebens zuentlocken, die schicksalshafte Wendungen in seinem Leben waren. Das Wecken von Erinnerungen geschieht in einer Art Legacy-Modus, über den immer neue Karten in neuen Szenarien ins Spiel kommen, während andere Karten entfernt werden. Zudem gibt es in jedem Szenario eine etwas veränderte Ausgangsituation sowie eine kurze Geschichte vor und nach dem Szenario, durch welche die Geschehnisse vorangebracht werden.

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Doch bevor es an das Sammeln von Erinnerungen geht, steht zunächst der nüchterne Klinikalltag auf dem Arbeitsplan. Dies bedeutet, dass das Pflegeteam bestehend aus Pflegekräften, Aushilfen und Aushilfen auf Abruf so eingeteilt werden muss, dass die Früh-, Spät- und Nachtschicht abgedeckt sind. Die Pflegekräfte werden von den jeweiligen Spielern gespielt, der Schichtleiter, der in jeder Runde wechselt, übernimmt die Steuerung der Aushilfskräfte, nachdem er die jeweilige Schicht besetzt hat. In jeder Schicht wird eine Patientenkarte aufgedeckt, auf welcher der momentane Zustand von Billy angezeigt wird und die angibt, welche Hilfe er aktuell benötigt. Die Spieler entscheiden dann, wie sie aktiv werden: ob sie sich um das Seelenwohl von Billy kümmern und dabei evtl. neue Erinnerungen erhalten oder ob sie seinen körperlichen Zustand aufrechterhalten, um so ein längeres Überleben zu sichern.

Um das Spiel zu gewinnen ist es wichtig, sowohl die mentale als auch die physische Verfassung im Auge zu behalten. Baut Billy mental ab oder verliert er das Vertrauen in die Pfleger, ist es schnell vorbei mit neuen Erinnerungen. Wird die physische Gesundheit nicht beachtet, kommt Billys Ableben und damit auch das Spieleende immer näher. Die Krankenhausleitung hat ebenfalls ein Auge auf die Gesundheit, weswegen es zwingend vorgeschrieben ist, zumindest einmal pro Tag den Patienten medizinisch zu versorgen, will man sich keine Verwarnung einfangen. Zusätzliche Verwarnungen gibt es, wenn für eine Schicht kein Personal eingeteilt werden kann oder wenn der Spieler, der eigentlich als Schichtleiter an der Reihe wäre, wegen Erschöpfung einen Ruhetag einlegen muss. Letzteres passiert, wenn zu viele Doppelschichten gefahren werden mussten und sich zu viel Stress angesammelt hat. Und Verwarnungen sind böse, da mit der zweiten Verwarnung das Spiel beendet ist.

Wenn ihr euch um die mentale Versorgung von Billy kümmert, erhaltet ihr entweder Versorgungsmarker und/oder vage Erinnerungen. Erzählt Billy euch eine vage Erinnerung, zieht ein Spieler eine vage Erinnerungskarte unten vom Stapel und gibt sie verdeckt an den Spieler weiter, der Billy versorgt hat. Am Ende der Schicht kann ein Spieler, der an der Versorgung Billys beteiligt war, ein Gespräch mit dem Patienten führen, indem er einen seiner Versorgungsmarker ausgibt, und somit klare Erinnerungen erhalten. Erinnerungen bleiben grundsätzlich immer bis ans Ende der Runde verdeckt. Am Rundenende werden dann alle vagen Erinnerungen ins Raster ausgelegt. Danach überprüft jeder Spieler, ob eine seiner klaren Erinnerungen zu einer vagen Erinnerung auf dem Raster passt und legt diese über dieser aus. Sollte es noch keine vage Erinnerung zu der klaren Erinnerung geben, muss die Karte wieder zurück in den Stapel gemischt werden.

Das Arbeitsmaterial eines Pflegeteams

Das Material macht einen überwiegend guten Eindruck. Im Karton ist ein Plastiksortiersystem, in dem das gesamte Spielmaterial problemlos verstaut werden kann. Das Spielbrett und das Brett für den Schichtleiter sind aus festem Karton gefertigt. Die einzelnen Marker sind zwar ebenfalls relativ stabil, allerdings hat sich bei mir beim Auspöppeln teilweise die Druckschicht vom Karton gelöst, weswegen ich diese wieder aufkleben musste. Die Figuren für das Pflegeteam sind aus Holz gefertigt. Die einzelnen Karten sind stabil und widerstandsfähig.

Die Gestaltung der Motive auf den Karten ist sehr gut und ansprechend gelungen. Die Auflösung von vagen zu klaren Erinnerungen wurde in einem sehr schönen Zeichenstil umgesetzt und stellt ohne Zweifel das Herzstück des Spiels dar. Die Anleitung ist klar gegliedert und bietet einen recht einfachen Einstieg in das Spiel. Nach dem Lesen blieben bei mir keine Frage mehr offen und ich konnte schnell losspielen.


Als ich das erste Mal von “Holding On” gelesen habe, stellte ich mir direkt die Frage, ob ich Lust dazu habe ein Spiel zu spielen, bei ich einen Menschen beim Sterben begleiten soll. Nachdem ich die Regeln gelesen hatte, war die Frage nicht mehr so stark im Vordergrund, da es weniger der Palliativgedanke ist, der hier im Vordergrund steht, sondern vielmehr das Sammeln von Erinnerungen und das Erleben einer Geschichte. Und diese Idee gefiel mir dann sehr gut, da sie für mich einen sehr interessanten, erzählerischen Ansatz nutzte, der mich neugierig auf das Spiel machte.

Doch bevor das Sammeln von Erinnerungen losgehen kann, gilt es zunächst die monotone Arbeit der Pflegekräfte zu meistern. Beim Lesen der Regeln hörte sich dieser Teil noch wie eine kleinere Pflichtaufgabe an, entwickelte sich aber recht bald zum großen Drama. Es fing damit an, dass es gleich zu Beginn zwei lebensbedrohende Situationen bei Billy gab, weswegen das Team sich gleich in zwei Schichten damit beschäftigen musste, die physische Gesundheit beim Patienten stabil zu halten. Dadurch blieb am Ende nicht mehr allzu viel Zeit für geistige Pflege, weswegen es direkt ohne Erinnerungen aus der ersten Runde ging.

Und auch an den nächsten Tagen wurde es nicht unbedingt besser, bis irgendwann die Entscheidung getroffen wurde, die körperliche Gesundheit nur noch so weit aufrecht zu halten, dass Billy nicht direkt dem Tod ins Auge blicken muss. Und was soll ich sagen, das fühlte sich rein von der Mechanik betrachtet als absolut richtige, strategische Entscheidung an, aus rein moralischen Gesichtspunkten allerdings absolut falsch. Auf einmal waren meine anfänglichen Befürchtungen wieder ganz nah, dass ich eigentlich niemandem beim Sterben zusehen möchte, geschweige denn ihn aus rein egoistischen Gründen untätig in den Abgrund driften zulassen. Immerhin nahm ich es billigend in Kauf, seine Lebenskraft für Erinnerungen zu opfern.

Als durch die fragwürdige Taktik mehr Erinnerungskarten reinkamen, gab es dann das nächste Problem. Es wurden zwar immer wieder vage Erinnerungen eingesammelt und es wurden Versorgungsmarker ausgegeben, um daraus klare Erinnerungen zu machen, nur leider kam es viel zu oft vor, dass diese nicht passten und die klaren Erinnerungen wieder ins Deck zurück gemischt werden mussten. Nicht nur, dass es zu oft vorkam, dass wir klare Erinnerungen nicht auslegen konnten, kamen auch regelmäßig Zwischenfälle beim Ziehen von Erinnerungen auf. Diese sind Teil der beiden Stapel mit Erinnerungen und rufen Komplikationen hervor. Und umso leerer das Deck wird, umso wahrscheinlicher werden Zwischenfälle. Der Glücksfaktor beim Spiel ist immens hoch. Das beginnt beim Ziehen der Patientenkarten, bei denen negative Effekte komplett blockieren können. Es geht weiter beim Ziehen aus den Erinnerungsstapeln, bei denen Zwischenfälle nicht nur neue Erinnerungen verhindern, sondern zudem auch noch für weitere Probleme sorgen. Und zu guter Letzt benötig man auch immer wieder Glück, dass die klaren Erinnerungen auf der Hand mit einer vagen Erinnerung im Raster übereinstimmen, weil sie anderenfalls wieder zurück gemischt und somit erneut erarbeitet werden müssen.

Ich kann wirklich nicht sagen, dass “Holding On” mich als Spiel sonderlich begeistert hat, was sich sicherlich auch unschwer aus meinen Ausführungen herauslesen lässt. Wo mich das Spiel aber auf jeden Fall gepackt hat, ist bei der Idee, eine Geschichte über einzelne Erinnerungen zu erzählen. Was am Ende als Lebenslinie rauskommt, ist zwar ganz sicher nicht die allergrößte und dramatischste Erzählkunst. Aber durch den etwas voyeuristischen Blick von außen auf ein menschliches Schicksal, mit all seinen Höhen und Tiefen, bei dem durch das Auslegen von anfangs vagen und später klaren Erinnerungen immer mehr ein Gesamtbild entsteht, wird man als Spieler schon gefesselt. Wenn mit dem letzten Szenario noch die drei größten Momente der Reue aufgedeckt werden müssen, welche die Lebensgeschichte endgültig abrunden, hat das schon etwas sehr, sehr interessantes. Schade nur, dass die Mechanik drumherum zu monoton und eintönig daherkommt und zusammen mit dem hohen Glücksfaktor den Spaß am Entdecken nahezu vollends zunichtemacht. Am meisten stört mich am Ende, dass es die beste Strategie ist, Billys körperlichen Probleme weitgehend zu ignorieren und ihn leiden zu lassen, nur um an möglichst viele Erinnerungen zu kommen. Das wirkt auf mich moralisch höchst fragwürdig und falsch und bei der ernsthaften Thematik des Spiels höchst unangemessen.

Holding On Wertung

Bilder zum Spiel

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Tags: Medizin, Murder/Mystery, Memory, Storytelling, Worker Placement, Sets erstellen, 2-4 Spieler, Kooperativ, Kartenspiel

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