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Kontra-Digitalisierung: Warum Brettspiele immer populärer werden

KOMMENTAR // Kontra-Digitalisierung: Warum Brettspiele immer populärer werden

Auch 2017 wird es wieder die größte Spiele-Messe aller Zeiten geben. In Zeiten von Tablets, Smartphones und zunehmender Digitalisierung aller Lebensbereiche erscheint dies absurd. Genau so verhält es sich mit der Tatsache, dass allein die deutschen Spieleverlage in den letzten zwei Jahren ihren Umsatz um rund 20 % steigern konnten.

Für den kometenhaften Aufstieg der alten “verstaubten” Branche gibt es viele Gründe.

Aufzuführen ist die zunehmende Produktionsqualität vieler Spiele. Gerade in den letzten zwei Jahren sind viele Spiele mit sehr hübscher Optik, hochwertigen Karten und Verpackungs- und Spielmaterial als auch optimierten Regeln erschienen (die Bewertung bezieht sich auf Neuerscheinungen deutscher Verlage). Das hat natürlich seinen Preis im wahrsten Sinne des Wortes. Die Spiele werden bei einigen Verlagen merkbar teurer, bei manchen auch zu teuer - für die gelieferte quantitative Qualität.

Das führt gleich zum nächsten Punkt: Viele Spiele sind vielfältiger und “pfiffiger” geworden. Ein wichtiger Punkt des Aufstiegs ist ganz sicher die Explosion der Ideen. Alleine auf Kickstarter erscheinen unzählige Titel pro Jahr. Dazu sprießen neue Verlage wie die Pilze im Herbst. trotzdem tummeln sich erfolgreiche Spieleautoren wie Uwe Rosenberg immer noch unter den erfolgreichsten ihrer Branche. Sie treiben die Entwicklung weiter an und liefern immer wieder sehr gute Spiele, die neue Aspekte in die Spielkultur einfügen.

Ein Beispiel gefällig?

Das einmal eine Version von “Schiffe Versenken” zu den Lieblingsspielen 2017 gehören würde hätte ich nie gedacht. Das bei Pegasus erschienen “Captain Sonar” hat das Spielprinzip auf ein ganz anderes tolles Level gehoben.

„Entscheidend is auf’m Platz“ - das ist eine Fußballweißheit, die auch für Brettspiele wunderbar passt. Der Spaß und die Interaktion mit seinen Mitmenschen in einer abgesteckten Zeit und nach festgelegten Regeln, entspricht auch dem, was Brettspiele ausmachen. Das führt zum nächsten Argument. Die Spiele sind so beliebt, weil sie genau das befriedigen können, was uns in unserem meist digitalen Alltag fehlt. Der direkte Austausch mit Menschen, die mit einem am Tisch sitzen. Man kann sich messen, man kann Spaß haben und über dies und das sprechen. So wie früher, als die Welt noch langsam, gemütlicher und analog war.

Wie krass der Wandel der letzten paar Jahre war, ist einem meistens nicht bewusst. Schleichend und unmerklich wandern smarte und digitale Produkte in den Alltag. Die Aufmerksamkeitsspanne ist schon enorm in Mitleidenschaft gezogen worden. Nehmen Sie sich einmal vor morgen einen Tag bewusst auf die eigenen Mediennutzung und die Ihrer Umwelt zu achten.

Werden Gespräche durch das Quengeln des Handys unterbrochen? Wie lange bleibt das Handy ungenutzt in der Tasche liegen? Haben Sie schon ein “Smart Home” und kontrollieren Raumtemperatur und Waschmaschine per Handy oder Tablet? Im Video “Look up” von Gary Turk ist der Alltag vieler Menschen der Moderne gut dargestellt und auch die Fragen sind die richtigen - wenn auch überzeichnet dargestellt.

Hier das Video

Und was sagt die Wissenschaft?

In den traurigen Zeiten von Fake News und Aufweichung von belegbaren Tatsachen, sollten wir auf jeden Fall wieder mehr auf wissenschaftlich belegbare Daten und Beweise konzentrieren. Die Wissenschaftler Peter Vorderer und Christoph Klimmt haben 2016 einige Thesen zum Thema veröffentlicht, die sogar von der “Zeit” abgedruckt wurden. Sie hatten sich mit dem Phänomen “Permanent Online - Permanent Connected” (immer online - immer vernetzt) auseinandergesetzt. Vielleicht können sie aufzeigen, warum gerade analoge Medien einen starken Zuwachs haben könnten.

Wissenszugang statt Wissensfundus - Früher galt dass Wissen, was man im Kopf hatte. Heute zählt nur noch zu wissen, mit welcher App das Wissen abrufbar ist. Langes Lesen oder Wissen aneignen ist nur noch bedingt hilfreich im Alltag. Da unser Kopf aber tägliches Training benötigt um sich zu entwickeln, kommt dass schnell zu kurz. Bei Spielen hingegen ist es zwingend erforderlich sich mit den Regeln auseinander zu setzen und sich diese zu merken. Hier wird eine alte unterforderte Fähigkeit des Menschen genutzt.

Foren und “Freunde” statt Kreativität - Schwarmintelligenz statt eigener Kreativität. Während man früher selber die grandiosen Ideen entwickeln musste, ist es heute wahrscheinlich, diese im Netz zu finden. Hier werden die eigenen Ideen und Ansätze schon oft im Ansatz erstickt. Ideen und Cleverness hingegen benötigt man in Gesellschaftsspielen oft und muss aktuelle entscheiden und der Bauch spielt neben dem Kopf (außer für absolute Denker) keine unwesentliche Rolle!

Big Data statt Intuition - Jeden Tag werden uns unzählige Entscheidungen abverlangt. In alten Zeiten hätte man seine Intuition genutzt und sich spontan entschieden. Heute hingegen kann man alles “googeln”. Wenn alle dies oder jenes machen, kann es kaum gut sein, dass ich es doch anders mache, oder?

Selbstverständnis statt Freude - Damals bin ich mit dem Rad in die Stadt gefahren, habe am Anfang Platten, später CDs mit Kopfhörern im Musikgeschäft gehört. Wenn mir ein Künstler oder eine Band gut gefallen hat, habe ich mein hart verdientes Geld auf den Tisch gelegt und das Werk erstanden und geschätzt. Heute? Ist fast alles digital geworden. Es gibt so gut wie keine kleinen Musik Geschäfte, Videotheken verschwinden aus dem Stadtbild und Buchhandlungen gibt es auch immer weniger. Tageszeitungen sterben wie die Fliegen. Alles ist dafür heute als Flatrate erreichbar. Musik, Video und Text ist Millionenfach in einer nie enden wollender Flut 24 Stunden an 365 Tagen verfügbar. Das ist nur noch selbstverständlich. Die Freude, die ich als Kind und Jugendlicher beim Kauf hatte, hingegen ist verschwunden. Bei Brettspielen ist es indes anders. Hier bleibt das Auspacken, der haptische Kontakt mit dem Material. Der Geruch der gedruckten Anleitung und der Verpackung. Ein nicht nur optischer sondern realer Gegenwert zu dem Geld, welches wir investiert haben.

Erreichbarkeit statt räumlicher Nähe - Beziehungen sind seit Beginn der Menschheit ein Miteinander, wenn wir zusammen sind. Seit der digitalen Revolution per “Facebook” oder noch stärker “Whats App“ ist diese Tatsache negiert. Beziehung ist permanent und in jeder Lebenslage. Auch hier gelten die Regeln der Kommunikation: Keine Rückmeldung wird in Sekunden, Minuten und Stunden interpretiert. Dinge erreichen uns an Orten und von Orten, die eigentlich nicht für Kommunikation gedacht sind. Schon heute sind Auswirkungen auf die Grenzen zwischen Privaten, Intimen und Beruflichen als auch dem zeitlichen, räumlichen und sozialen Ebenen. Auch hier bedienen Brettspiele ein Grundbedürfnis nach echten Kontakten zu seinen Mitmenschen.

Unverbindlich statt Zuverlässigkeit - Versuchen Sie mal ein definitv sicheres Treffen auszumachen und Sie können erleben, wie Menschen lavieren und um den “heißen Brei” sprechen um sich nicht festzulegen. Auch bei sich werden sie es erleben können. Ein vor zwei Wochen vereinbartes Treffen war eine tolle Idee, aber am Tag des Treffens haben sie - warum auch immer - keine Lust. Sie werden absagen und zwar per digitalem Weg. Spieletreffen hingegen (das ist nur eine subjektive Beobachtung) bieten noch Verlässlichkeit. Über Jahre hinweg treffen zu vereinbarten Zeiten und Tagen immer die gleichen Leute ein und freuen sich auf die gemeinsame Zeit.

Soziale Kontrolle statt Vertrauen - Soziale Medien sind die Basis des Kontaktes und gleichzeitig der Kontrolle. Wann konnte man schon einmal so viel über seine Mitmenschen herausfinden wie heute? Wann war er online? Wann hat er meine Nachricht erhalten? Wie lebt er und was findet er gut? Das alles spielt bei Spielen keine Rolle. Dann zählt nur das hier und jetzt. Kooperiere ich im Spiel mit dem Gegenüber oder lasse ich es lieber? Hier zählt abermals das Bauchgefühl statt Recherche.

Aufmerksamkeit statt Wertschätzung - manche bezeichnen es als neue Währung. Aufmerksamkeit. Bei YouToube zeigt es sich täglich, dass öffentliche Aufmerksamkeit gleichbedeutend mit finanziellem Erfolg gekoppelt ist. Aber auch im privaten haben Plattformen wie Facebook einen Kampf um “likes” eröffnet. Das “normale” reale Leben reicht nicht um Anerkennung zu gewinnen. Es ist nötig ausgefallene Sachen zu machen um aufzufallen. Früher reichte es zwei drei gute Freunde zu haben - heute ist jemand ein “Niemand” bei Facebook mit zwei drei Freunden. Der Begriff “Freund” ist inflationär verwendet und nur noch wenig aussagekräftig (digital). Analog hingegen trifft man sich sehr wohl noch mit Freunden und Bekannten. Hier kann man im Spiel Freude und Wertschätzung erfahren, selbst wenn man ein Spiel verliert. Bekanntschaften sind real und meist beständig.

Dabeisein statt erzählen - Viele Momente des Lebens werden mittlerweile geteilt. Alles was man erreicht hat wird prompt per Medien an seine Familie, Freunde und Mitmenschen verteilt. Es wird oftmals nicht mehr im Nachgang erzählt sondern gleich per Handy mitgeteilt. Das hat zur Folge, dass die Möglichkeit interessante Dinge zu erzählen sinkt. Wir dokumentieren unser Leben - Handy oder GoPro Kamera sei dank. So werden wir zu guten Kameramännern und Fotografen, während die Erzähler aussterben zu drohen. Bei Spielen läuft die Kommunikation über die Gestik und Sprache. Aufzeichnungen können eventuell den individuellen Onlinestatus erhöhen, aber bilden in der Regel nicht die Hauptmotivation dar, ein Spiel zu spielen.

Relativiät statt Sensation Was beeindruckt heute noch? Ständig prasseln auf uns Informationen ein. Alles wird gefühlt größer und extremer als es in der Realität ist. Dieses Toppen hat auch unsere Privatheit betroffen. Online muss ständig gezeigt werden wie gut und erfolgreich man sein Leben im Griff hat. Spiele hingegen, die analog sind, können für sensationelle Momente des Lebens sorgen. Wenn man ein Spiel gewonnen hat, das eigentlich verloren war, dann vergisst man dieses Erleben kaum noch. Spiele bieten eine reale und unmittelbare Erlebnisplattform. Hier sind Sensationen möglich.

Kontaktüberlastung statt Alleinsein - dieses ständige Verfügbar sein ist ermüdend. Es gibt Apps, die Auszeiten erst möglich machen und die sind sehr beliebt. Wann hatten Sie das letze mal Zeit und Ruhe Ihren Gedanken nach zu gehen? Sind es Monate? Sind es Jahre? Wir alle sind gehetzte Wesen. Getrieben vom Alltag und unserer digitalen Realität. Analoge Spiele bieten hingegen einen “Raum der Ruhe”. Es gibt eine kleine überschaubare Welt mit verlässlichen Regeln. Alles was darin stattfindet ist jederzeit nachvollziehbar. Die “Welt das draußen” spielt in der Regel keine Rolle. Wir haben klare Aufgaben zu bewältigen um das Ziel zu erreichen.

Flatrate statt gezieltem Auswählen - Entscheidungen im Alltag sind oftmals hinfällig. Was koche ich heute? Was Spiele ich für Musik auf der nächsten Party? Das muss ich nicht entscheiden, das Internet bzw. Apps geben mir alles vor. Brettspiele hingegen benötigen in der Regel sehr wohl eine bewusste Auswahl. So gut Spiele auch mittlerweile sein mögen, nicht jedes der weit über 1.000 Neuheiten pro Jahr sind für mich geeignet. Bei analogen Spielen gilt noch die Prämisse der manuellen Kaufentscheidung.

Fazit

Das sind nicht alle Aspekte der permanent Online, permanent Connected Gedanken der Wissenschaftler. Alle Bezüge zu Brettspielen sind Hypothesen des Autoren und keinesfalls wissenschaftlich belegbar, beziehen sich jedoch auf die Wissenschaftlichen Fakten/Hypothesen.

Was durch die Vergleiche jedoch klar werden sollte, ist die Annahme, dass analoge Spiele uns etwas geben, dass die Bedürfnisse des Menschen zum Teil erfüllen kann. Viele alte Bereiche und Ebenen des Mensch-Seins sind verloren gegangen. Diese Lücken können Gesellschaftspiele zum Teil füllen. Sie bieten uns das, was unsere Gesellschaft seit Jahrtausenden geprägt hat. Wir sitzen wieder zusammen rund um ein Feuer. Wir müssem unseren Kopf und Bauch nutzen um zu bestehen.

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